Kapitel 1
 

Der bürgerlicher Name des legendären Trappers Toni war, wie ja jeder schon aus dem Geschichtsunterricht weiß, Anton Kugelbär. Er lebte zuerst, also ab seiner Geburt praktisch, in seinem Geburtsort Frank.
Frank hatte damals erst vier Einwohner. Das waren Antons Vater Anton senior, Antons Mutter Else, Anton selbst und die kleine Lise Frank.
Familie Frank lebte schon vor den Kugelbärs in Frank, also eigentlich waren sie Frank. Bis die Kugelbärs dazuzogen. Da wären Sie dann schon sechs Einwohner gewesen, aber kurz vorher kamen Lise's Eltern beim alljährlichen Jahrhunderthochwasser der Oder ums Leben. Der Vater, Frank Frank (blöder Name, was?), starb an einer Alkoholvergiftung und die Mutter, Lotte, wurde von einer Kuh totgetrampelt. So, nun aber genug der Sensibilitäten und zurück zu den Kugelbärs.

Vater Kugelbär arbeitete damals als Schafer, denn er hütete das Schaf der Familie. Nein, Schafer ist hier kein Schreibfehler! Die Berufsbezeichnung Schäfer entstand erst später, als sich Kugelbärs im Rahmen der landwirtschaftlichen Revolution und der damit verbundenen Entstehung der Massentierhaltung ein zweites Schaf zulegten. Antons Mutter war beruflich eigentlich nichts, aber da Sie gut kochen konnte, die Wäsche wusch und auch sonst alles sauber und die Klappe hielt, durfte sie bleiben.

Tja, und so vergingen die ersten Jahre. Anton entwickelte sich wie jedes normale Kind, brach sich in seinen ersten sieben Lebensjahren dreimal den Arm, einmal ein Bein und stach sich einmal fast das rechte Auge aus. Der Ast ging aber knapp vorbei. Ins linke Auge. Aber auch das ist ringeblieben. Das er ab diesem Baumsturz auf dem linken Auge farbenblind war, kann hier vernachlässigt werden. Damals waren Farben Luxus, und den konnten sich Kugelbärs nun wirklich nicht leisten! Das Aufregenste im Leben der Kugelbärs war zu dieser Zeit eigentlich immer, wenn Lise am Donnerstag vorbei kam und was zu essen kriegte. Also, genau genommen kam Lise wesentlich öfter vorbei, aber wie schon gesagt, Kugelbärs waren selbst ganz schön arme Schlucker. Um diese Tatsache nur einmal an Hand eines Beispiels zu verdeutlichen sei hier erwähnt, daß Anton bis zu seinem vierten Lebensjahr kein eigenes Bett hatte und bis dahin in der Kiste vom Videorecorder schlafen mußte!!

So verging Jahr um Jahr, bis Anton 13 Jahre alt war. Die Jahrhundertflut hatte in diesem Jahr das Grundstück der Kugelbärs erreicht. Vater Kugelbär beschloß, daß das so nicht weitergehen kann. Er berief eine Satdtversammlung ein, an der auch wirklich alle vier Einwohner teilnahmen. Das waren damals eben noch ganz andere Zeiten. Da wußte man noch nicht einmal, wie man Politikverdrossenheit schreibt! Bei dieser Vollversammlung nun gab Vater K. bekannt, daß alle Bürger von Frank gemeinsam in die Hände zu spucken haben (Anm. d. R.: also jeder in seine) und einen Deich bauen müssen. Er hatte auch gleich die Arbeit aufgeteilt. Mutter Kugelbär bekam das Stück vom Oderhaff bis Hohenwutzen, Anton von ebenda bis in die Ziltendorfer Niederung (exakt: Thälmann-Siedlung) und Lise von der Thälmann-Siedlung bis Aurith. Vater Kugelbär selbst behielt sich gleich zwei und dazu noch die schwersten Aufgaben vor, nämlich:

1. Koordination
2. Verantwortung tragen.

Er war eben ein ganzer Kerl und scheute weder Tot noch Teufel noch Arbeit!

Hier greift der Geschichts-Schreiber ein und möchte an folgende Fakten erinnern:

Wer hatte denn beim Deichbau den größten Knast? Wer hat denn nur Donnerstags was zu essen bekommen, hä? Wer hat denn nun zwischen der Thälmann-Siedlung und Aurith den Deich gebaut, na?

UND WO BITTE IST DER DEICH 1997 ZUERST GEBROCHEN ???

Es rächt sich eben alles irgentwie! Und vor allem irgentwann!

Aber das konnte den Kugelbärs damals natürlich scheißegal sein. Vater Kugelbär war stolz auf das, was er erreicht und geschaffen hatte. Er hatte einen Deich vom Oderhaff bis zur Neiße gebaut und war sich natürlich auch seiner Verantwortung bewußt. So sagte er schon damals: "Und wenn in hunderten von Jahren, z.B. 1997 der Deich mal brechen sollte, dann kommt doch und pinkelt auf mein Grab, wenn ihr es noch finden tut!"

Und die Jahre vergingen weiter. Ab und zu kam die Oder noch über'n Deich gesprungen, aber eben drüber und nicht durch! Das war nur einmal ein bischen tragisch. Frank hatte gerade seinen fünften Einwohner bekommen, einen Obdachlosen Berliner, der in Frank sein Glück machen wollte. Der hatte immer am Deich gepennt, in der weisen Voraussicht, daß da, wo schon mal ein Fluß ist, ja vielleicht auch mal 'ne Brücke hinkommt, unter die man sich dann betten könnte. Und da ist er dann auch ersoffen. Damit verloren in Frank bei dieser furchtbaren Katastrophe 20 Prozent der Einwohner ihr Leben, aber eben nicht ihr Obdach! Und die Sache hatte noch ein Gutes. In Frank konnte das erste offizielle Flutopfer in die kommunale Unfallstatistik aufgenommen werden. Bis dahin wurde nämlich von anderen 20 Prozent der Einwohner (Lise) deren Daseinsberechtigung
angezweifelt.

Dann kam es zum ersten denkwürdigen Tag in Antons Leben, an welchem er seinen 16. Geburtstag feierte. Niemand weiß so genau, wie alt Anton da
eigentlich war, denn der Kalender wurde erst nach Antons 16. in Ostbrandenburg eingeführt. Es mußten dann noch viele weitere Jahre vergehen, bis dieser Kalender den Ostbrandenburgern auch erklärt wurde. Die wußten bis dahin nämlich nicht so genau, was sie mit diesem komischen Papierklumpen eigentlich anfangen sollten. Woher denn auch? Der damalige Kultusminister...ich schweife ab.

Also Anton feierte seinen 16. Geburtstag. Alle waren gekommen, Lise zum Geburtstag und Vater und Mutter früh im Bett, nein, natürlich auch zum Geburtstag. Das war, wie bereits erwähnt, ein denkwürdiger Tag in Antons Leben, denn sein Vater sprach zu ihm: "Junge, Du bist heute wahrscheinlich 16 Jahre alt geworden und damit erwachsen, und wenn nicht, dann frißt Du inzwischen wie ein Erwachsener, und das muß reichen!" Anton verstand den Satz nicht so richtig, aber das war egal, denn sein Vater sagte ihm schon einen neuen. "Jetzt, wo Du erwachsen bist, mußt Du etwas erschaffen, auf das Du Dein Leben lang zurückblicken kannst. Schau mich an, ich habe den Deich gebaut!" Das waren gleich zwei Sätze. Lise hatte sich aber heimlich den zweiten gemerkt, deshalb konnten sie das nach der Feier zusammen aufarbeiten. Überhaupt fühlte Anton, daß er mit Lise prima zusammen paßte, und auch Lise fiel auf, daß jeden Donnerstag, wenn sie bei Kugelbärs zum Essen vorbeischauen durfte, Anton mit ziemlich dicker Hose durch die Gegend rannte. Als Lise Anton einmal darauf ansprach, sagte dieser, daß das eine ziemlich große, krankhafte Schwellung sei. Seine Mutter hatte ihn aber vernünftig aufgeklärt, denn sie sagte ihm, daß sich das gibt, wenn er aus dem Elternhaus aus- und mit Lise zusammenziehen würde. Diesen Schritt tat Anton dann auch, worauf die Redewendung von der "gesunden Ehe" zurückzuführen ist.

In trauter Zweisamkeit mit Lise wurde nun überlegt, was Anton denn nun erschaffen könnte. Und wie heute hatte auch schon damals die Frau die zündende Idee, wie und was ihr Alter denn schindern könnte. Sie schlug Anton ihre Idee vor. Ungefähr so:

"Du kennst doch das Dorf am gegenüberliegenden Oderufer?" "Hä?" "Das Dorf, zu dem wir immer nachts die Lichtzeichen geschickt haben!" "Hä?" Diese Leute, deren Antwortlichtzeichen wir nie verstanden haben, weil sie in polnisch geblinkt haben!!" "Hä?" "Anton!!!" "Ach ja, die!"
"Da soll es gaaanz billig Treibstoff geben!" "Wa?" "Ja, die Heuballen kosten da nur Pfennige" "Ach watt!" "Wenn ich's doch sage!" "Jaja!" "Und Zigaretten ...!" "Ja?" "JA! Eine Stange für einen Apfel und ein Ei!" "Geil!" "Nur rüber kommen müßte man."

... und so weiter und so fort ...

So kam es, daß sich Anton vor seinem Vater aufbaute, sich in seine ziemlich schmale Brust warf und sprach: "Vater, ich weiß, was ich schaffen will!" "Soso! Das wissen Deine Mutter und ich jeden morgen und jeden Abend, mein Sohn. Ist sonst noch was wichtiges?" "Papa, ich meine, ich weiß, was ich bauen will!" "Ach so, na dann laß mal hören!" "Ich baue eine Furt nach Drüben!" "Wegen der Kippen und dem Sprit?" "Ja, Papa! Da kann man superschnell rübermachen, auf dem Polenmarkt schoppen, und ist bei ohne Stau in einer halben Stunde wieder zurück!"

Hier greift der Geschichts-Schreiber ein und möchte an folgende Fakten erinnern:

Damit dürfte auch diese große Frage der deutschen Wiedervereinigung geklärt sein. Schon damals wurden im tiefsten Osten Begriffe wie "Drüben" und "rübermachen" erfunden und über hunderte von Jahren in tiefer Tradition gepflegt und bewahrt. Als wenn die Menschen schon damals wußten, daß sie diese Wörter noch einmal sehr oft gebrauchen würden.

So machte sich Anton daran, immer nach Feierabend an der Furt zu schippen. Hauptberuflich hatte er sich für den weit und  breit geachteten (oder war es geächteten) Beruf eines "Wilddiebs in des Königs Wäldern" entschieden. Tja, er war eben in zwei Sachen richtig gut, der Anton. Über die eine konnte der König Auskunft geben und über die andere Lise. Genau! Es waren "Wildschweine klau'n" und "abwaschen". Und da es in Frank hauptberuflich nicht so sehr viel abzuwaschen gab, konnte ihm das damals noch kommunal angesiedelte Amt für Arbeit nur eine Stelle als Vollzeit-Wilddieb vermitteln (Schafer war ja schon weg).

Das Furt aufschippen zog sich hin. Ohne die Hilfe (Koordination) seines Vaters hatte Anton es halt doppelt so schwer. In der Zwischenzeit trieben (im wahrsten Sinne des Wortes) Anton und Lise die Einwohnerzahl von Frank auf sieben in die Höhe, in dem sie zwei Kinder in die Welt setzten!

Na, hab ich mich jetzt vielleicht verrechnet? Habe ICH mich hier verrechnet?? Anton senior, Else, Anton, Lise, die beiden Blasen Anton III. und Gunther? Na klar sind das nur sechs!! Aber erstens bin ich hier der Geschichtenschreiber und habe damit immer Recht (!!) und zweitens habe ich noch nichts von dem neuen fünften Einwohner erzählt! Aber ich will ja hier keinen dämlich sterben lassen.

Der neue fünfte Einwohner war ein zwischenzeitlich illegal eingereister (über die Oder geschwommener) Rumäne. Anton senior wollte ihn eigentlich erst zurückjagen, weil der Rumäne, Imre mit Namen, ja über kein gültiges Einreisevisum verfügte. Wie auch, er hatte ja nicht mal einen Paß. Und ob Imre wirklich sein richtiger Name war, wird wohl auch ewig ungeklärt bleiben. Anton senior dachte, daß es vielleicht Streß mit den Behörden gibt, aber dann fiel ihm ein, daß er ja alle Behörden in Frank selber war. Und weil Imre weit mehr als nur die üblichen Gebühren bezahlte, stellte er ihm flugs alle notwendigen Papiere aus und die Sache war erledigt. Außerdem war Imre ein prima Kutschen-Mechaniker. Und preiswert!